Problembeschreibung
Die zunehmende weltweite Migration [1] wird von vielen Beobachtern als wichtigste Ursache für die wachsende Diversität in Schulen und der Gesellschaft insgesamt angesehen [2]. Sinkende Geburtenraten in den Einwanderungsländern in Verbindung mit noch mehr internationaler Mobilität dürfte dazu beitragen, dass unsere Gesellschaften in Zukunft noch vielfältiger werden [3]. Den meisten europäischen Länder fällt es nicht leicht, auf die rasche Zunahme von Schüler_innen unterschiedlicher Herkunft in ihren Bildungssystemen zu reagieren und dabei deren Nichtdiskriminierung sowie gleiche Bildungschancen und Bildungserfolge für alle schulpflichtigen Kinder zu gewährleisten.
Bildungspolitische Konsequenzen
Empirische Daten zeigen, dass Einwandererkinder und ihre Familien besonders häufig, offen oder versteckt, strukturell diskriminiert werden. Ihr Zugang zu hochwertiger Bildung ist eingeschränkt und oft können sie aufgrund einer bereits bestehenden Wohnsegregation nur sozioökonomisch segregierte Schulen besuchen, in denen häufig qualifizierte Lehrkräfte, kulturelle Vermittler und andere Förderstrukturen fehlen. Wissenschaftliche und politische Kreise sind sich darin einig, dass eine frühe Verteilung auf unterschiedliche Schulformen eines der größten Hindernisse für den späteren Erfolg der Schüler_innen in Bildung und Beruf darstellt [4]. Schüler_innen, deren Familie zugewandert ist oder einer ethnischen Minderheit angehört, haben häufiger schlechte schulische Leistungen [5], besuchen häufiger berufsbildende Schulen, die zu einem niedrigen Schulabschluss führen [5] [6] [7], verlassen die Schule häufiger ohne Abschluss, streben seltener einen tertiären Bildungsabschluss an [8], haben mehr Probleme bei der Integration in der Arbeitsmarkt [9] und sind häufiger von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen.
Politische Empfehlungen
Die Forschung zeigt, dass die Bildungssysteme grundlegend reformiert werden müssen, um eine nicht diskriminierende Lernumgebung zu schaffen, die den schulischen Erfolg fördert [10]. Dabei ist entscheidend, dass alle Kinder den gleichen Zugang zu hochwertigen Bildungseinrichtungen genießen, und zwar schon ab der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung (FBBE). Kinder aus Einwandererfamilien und sozial benachteiligten Familien sind in der FBBE unterrepräsentiert, obwohl die Forschung beweist, dass genau diese Gruppen am stärksten von FBBE profitieren, weil diese den Erwerb der Schulsprache und die Sozialisation in der Gastgeberkultur fördert [11]. Aus pädagogischer Sicht ist es wichtig, ein Umfeld zu schaffen, in dem die Möglichkeiten und Talente der Kinder betont und wertgeschätzt werden und nicht ihre Schwächen und Fehler [11] [12]. Vor diesem Hintergrund sollten die Definition des Lehrberufs und die Lehrerausbildung so überarbeitet werden, dass sie Lehrpersonen besser auf den Umgang mit sozialer Vielfalt vorbereiten. Spezielle kulturelle Vermittler und Vorbilder könnten die Eingliederung von Roma-Schülern und Einwandererkindern erleichtern und dazu beitragen, die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schulen zu stärken [13] [14] [15]. Es ist wichtig, die Jugendlichen und deren Eltern auf offene und faktengestützte Weise über unterschiedliche schulische Bildungszüge und verfügbare Sekundarschulen zu informieren [7] [16]. Außerdem sollten alle allgemeinen und beruflichen Bildungssysteme gewährleisten, dass alle Schüler_innen — auch Schüler_innen aus benachteiligten Haushalten, Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf und Schüler_innen mit Migrationshintergrund — einen Schulabschluss erreichen, gegebenenfalls über den zweiten Bildungsweg oder durch individuelle Unterrichtsmethoden [7].
[1] Wenn jemand kulturelle, rechtliche, sprachliche oder geo-(politische) Grenzen überquert, sprechen wir vom sozialen Phänomen der Migration. Siehe Mecheril, P., Migrationspädagogik [Pedagogy of Migration], 2010, p. 35
[2] OECD, [Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung], Untapped Skills: realising the Potential of Immigrant Students [Ungenutzte Talente. Das Potenzial von Schülern mit Migrationshintergrund erkennen], OECD Publishing, 2012; OECD, Educating teachers for diversity: meeting the challenge [Lehrer auf Vielfalt vorbereiten: Herausforderungen bewältigen], OECD Publishing, Paris, 2010.
[3] OECD, [Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung], Education at a Glance: 2014 OECD Indicators [Bildung auf einen Blick 2014: OECD-Indikatoren], OECD Publishing, Paris, 2014
[4] Zu den Begriffen „Zugang“ und „Zugänglichkeit“ siehe Parreiro do Amaral, M.; Stauber, B.; Barberis, E., „Access to and Accessibility of Education Throughout the Educational Trajectories of Youth in Europe, European Education“ [Zugang zu und Zugänglichkeit von Bildung entlang der Bildungsbahnen junger Menschen in Europa, Europäische Bildung], Issues and Studies, Band. 47, Nr. 1, 2015. Der Artikel beschreibt unter anderem Ergebnisse des Projekts „GOETE“, das im Rahmen des 7. Europäischen Forschungsprogramms finanziert wurde. Der Zugang zu bzw. die Zugänglichkeit von Bildung ist nicht automatisch auf die Schule beschränkt. Sie umfasst auch den Zugang zu Beratungsangeboten, Jugendhilfe und finanziellen Hilfen. Auch die Aspekte Wohnraum, Unterstützung der Eltern und Zugang zu auf Kinder und Jugendliche zugeschnittene Sozialarbeit gehören zu diesem Bereich.
[5] OECD, [Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung], ‘Untapped Skills: Realising the Potential of Immigrant Students’ Ungenutzte Talente. Das Potenzial von Schülern mit Migrationshintergrund erkennen], OECD Publishing, Paris, 2012. doi: 10.1787/9789264172470-en.
[6] Lessard-Phillips, L.; Fleischman, F.; Elsas, E. van., ‘Ethnic minorities and educational systems in ten Western countries’ [Ethnische Minderheiten und Bildungssysteme in zehn westlichen Ländern]. In: Heath, A.; Brinbaum, Y., (eds),Unequal Attainments, OUP/British Academy, Oxford, 2014, pp. 25-61.
[7] Lessard-Phillips, L.; Brinbaum, Y.; Heath, A.F., ‘The Choice of Academic and Vocational Tracks in Upper Secondary Education’ [Die Wahl allgemeiner und beruflicher Bildungswege in der oberen Sekundarstufe]. In: Heath, A.; Brinbaum, Y., (eds), Unequal Attainments, OUP/British Academy, Oxford, 2014, pp. 25-61.
[8] Crul, M., ‘Pathways to Success for the Children of Immigrants’ [Wege zum Erfolg für Einwandererkinder], Migration Policy Institute, April 1, 2007.
[9] Heath A. F.; Rothon, C.; Elina Kilpi, ‘The Second Generation in Western Europe: Education, Unemployment, and Occupational Attainment’ [Die zweite Generation in Westeuropa. Bildung, Arbeitslosigkeit und beruflicher Erfolg], Annual Review of Sociology, 34, 2008, pp. 211-235.
[10] OECD, ‘Can the performance gap between immigrant and non-immigrant students be closed?’ [Lässt sich die Lücke zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund schließen], PISA In Focus, 53, 2015.
[11] Heckmann, F., Education and Migration – strategies for integrating migrant children in European schools and societies. A synthesis of research findings for policy-makers [Bildung und Migration – Strategien zur Integration von Einwandererkindern in europäische Schulen und Gesellschaften. Zusammenfassung von Forschungsergebnissen für die Politik], Report submitted to the European Commission by the NESSE network of experts [Bericht des Expertennetzwerks NESSE für die Europäische Kommission], 2008.
[12] Siehe hierzu auch die Diskussion über „positive Diskriminierung“, z. B. Scheffer P., Die Eingewanderten: Toleranz in einer grenzenlosen Welt, Carl Hanser Verlag, Munich, 2008, p. 468.
[13] Europäischer Rat, Conclusions on a strategic framework for European cooperation in education and training (‘ET 2020’), (2009/c 119/02) [Schlusfolgerungen des Rates zu einem strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung (2009/c 119/02)], Official Journal C 119 of 28.5.2009, 2009.
[14] Europäischer Rat, Generaldirektion Bildung und Kultur, Study on educational support for newly arrived migrant children [Studie über Bildungsförderung für neu angekommene Zuwandererkinder], 2013. doi:10.2766/41204. [15] OECD [Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung], Excellence through Equity: Giving every Student the Chance to Succeed [Exzellenz durch Gleichstellung – jedem Schüler eine Chance auf Erfolg], Band II, OECD Publishing, Paris, 2013. doi:10.1787/9789264201132-en. Report exemplifies projects undertaken by Germany (pp. 77-78).
[16] Green, A., Immigrant Workers and the Workforce Development System in the United Kingdom [Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund und das System zur Weiterbildung von Arbeitskräften im Vereinigten Königreich], Migration Policy Institute [Institut für Migrationspolitik], Washington, DC, 2013.